Die Nagelschuhe, die
mir vorausgehen, sind abgenutzt, gebraucht,
geschunden und gewöhnt, schwierigste
Gegebenheiten zu besteigen. Rechts neben mir
wächst in Schulterhöhe der Berg; links, neben
dem wenige Zentimeter breiten Pfad, ein
abfallender, schwindelerregender Abgrund, der mir
dennoch ein erhabenes, zufriedenes Gefühl gibt.
Der erhaschte Blick nach unten muss schnell
wieder auf den schmalen Steg gerichtet werden,
denn dieser ist wechselnd, kurvenreich, holprig
und wird stellenweise sehr schmal.
Abrupt dreht sich alles, denn in Gegenrichtung
steigen die Bergschuhe meines Vorgängers, und in
Sekunden richtet sich mein Blick rechts hinunter
in die Welt.
Die Welt, in der ich die Greifvögel von unten
mit viel Glück bewundern konnte. Welch eine
Freude, sie in ihrer mir unbekannten Schönheit
von oben beobachten zu können. Die uns
entgegenspringenden Felsen, aus denen in jeder
Spalte ein Gewächs vorsichtig, doch wie
selbstverständlich, uns vorwitzig entgegen
sprießt; die Eidechsen, die, von uns gestört,
hastig ihren warmen Sonnenplatz verlassen, geben
mir ein Gefühl des Außergewöhnlichen, fast
Exotischen.
Mein Vorgänger steigt in gleichmäßigen
Schritten und stetem Tempo. Mein Puls ist erhöht.
Die Muskeln in den Beinen sind angespannt. über
mir - unter mir - was ist reizvoller? Den Gipfel
ersteigen, übervoll von erreichter Höhe,
übervoll vom extrem abfallendem Berg.
Wieder nur solch rasche Gedanken. über mir
steht der Mann, von dem ich die
Schuhe sah, zu den Bergen passende Schuhe, er
steht über mir im wahrsten Sinne und das auf dem
schmalen, sich nach kurzen Strecken immer wieder
wendenden Pfad. Er ist gleichsam erwachsen
geworden in diesen Schuhen.
Nun schaut er, seitlich gedreht, in
sein Land hinunter und sicher mit
anderen Gedanken und Gefühlen als ich. In diesem
weit unten liegenden Land ereignete sich alles,
was diesen Mann ausmacht: Die Berge umschließen
seine Heimat, seine Kindheit, Vater und Mutter.
Freude, Enttäuschungen stiegen und fielen wie
seine Berge und wie dieser, mir schwer werdende,
Pfad.
Er liest wohl in meinem Gesicht, und ein
bestimmtes Lächeln, sowie ein Ausdruck von
Verständnis macht mich mutig ihm zu folgen.
Schwerer fällt mir nun das Weitergehen. Immer
wieder unterbricht ein Treppchen mit stark
ausgetretenen Treppenstufen den engen Weg. Sie
sind ungleich kurz, überlang, ausgetreten. Frage
ich ihn, wie alt sie sein könnten, so antwortet
er mit einem Achselzucken - und sein Vater und
Großvater hätten es auch nicht gewusst. Ich
zähle zurück, - sie könnten so etwa . . . ; .
. . ich rutsche vom Pfad ab und gleite in einem
Geröll von Schieferstein, werde aufgefangen von
den hier wachsenden Gebinden.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als auf
allen Vieren die paar Meter hoch zu hangeln, um
meinen Körper auf den Weg zu drehen und vor
Schreck dort ein wenig auszuruhen. Damit
muss man rechnen, so mein Begleiter, selbst
ihm würde das hin und wieder passieren.
Ich schiebe diese Unachtsamkeit jedoch auf
meine vielen Gedanken und die mich aufregenden
Eindrücke. Ich nehme mir vor, nur noch zu denken,
wenn ich sicheren, festen Boden unter den Füßen
habe oder, wie jetzt, gut sitze. Zu meinem
Erstaunen und meiner Freude setzt er sich zu mir,
und unsere Beine hängen fast gerade den Berg
hinunter.
Er spricht lange nicht; und doch verstehe ich
ihn. Jemanden lieben zu sehen, versunken in
unerkaufte Gefühle und dies in gewissem Maße
nachzuvollziehen, macht demütig und dankbar. Ich
habe plötzlich das Gefühl unser, - sein Ziel
erreicht zu haben, - zufällig, doch endgültig.
Die Sonne, die noch vor einer Stunde, als wir
am Fuße des Berges standen, die Blätter in den
Höhen goldgelb erscheinen ließ, ist
weitergezogen. Diese andere Stimmung belebt nun
meinen Winzer. Er beginnt, genauso ruhig zu
sprechen, wie sein Schritt war, als seine
Nagelschuhe ihn hinauftrugen.
Schauen Sie, spricht er,
diese Reihe, und damit zeigt er auf
eine Weinstockreihe, die links neben mir in
die Tiefe abfällt, ist die Grenze zu meinem
Weinberg. Mein Vater pflanzte, als ich 12 Jahre
war, diesen Weinberg an. Ich musste helfen. Ich
weiß es noch gut. Was wir brauchten, wurde
hochgetragen in Kiepen oder auf den Rücken
zusammengepackt. Es war zu meiner Jugend
selbstverständlich,dassdie Jungen, je nach Alter,
dem Vater, die Töchter der Mutter helfen mussten.
Sicher gingen wir auch oft lieber spielen, so wie
alle Kinder auf der Welt, doch ich bin heute
meinem Vater dankbar; denn die Liebe zu der Natur,
der herben, nackten Natur, die Liebe zu unserem
Calmont, wie dieser Berg hier heißt, und dadurch
zu unserem Wein wurde mir früh in Blut gesetzt.
Sind diese Weinstöcke alle so alt
frage ich vorsichtig, um ihn nicht zu
unterbrechen.
Nein, viele mussten im Laufe der
Jahrzehnte ausgehauen und junge Pflanzen
eingegeben werden und bei jedem Weinstock, den
ich neu pflanzte, dachte ich an die Zeit mit
meinem Vater, der mit der damaligen Ruhe und
Gelassenheit diesen Weinberg zum Leben brachte.
Eine kurze Pause, in der ich nicht ein Wort zu
sagen wage, und er erzählt mir von den guten
Weinjahren, wie aus diesem Weinberg die Trauben
in der Traubenkiepe bis runter an den Erntewagen
gebracht wurden. Das waren jedoch nicht solche
Erntewagen, wie sie heute üblich sind, nein, es
war ein Wagen, auf dem eine Holzbütte stand, und
der von einer Kuh, die fast jeder Winzer in
seinem Stall hatte, gezogen wurde - oder später
gar von seinem ersten Deutz.
Es sind herrliche Weine gewesen, die er in
seinem Keller ausbauen konnte. Es kommen einige
Jahrgänge ins Gespräch, wobei er auch die
Missernten nicht ausl. Dies nennt er nur am Rande,
als wenn er das Unschöne eigentlich vergessen
hätte und nur seine guten Weine wichtig sind.
Wissen Sie, so fährt er fort,
der Wein bestimmte unser Leben. Wir waren
so arm,dasswir nur an besonderen Tagen von dem -
Guten - tranken, unser -
Haustrunk - musste uns gut genug sein.
Gottseidank ist das heute anders geworden als zu
meiner Zeit, doch besser und leichter haben es
unsere Kinder auch nicht, im Gegenteil. Sie
müssen schneller arbeiten,- es ist hektischer
geworden, man nennt es Streß. Dabei
fingert er an seinem Rucksack und hat plötzlich
eine alte grüne Weinflasche in der Hand und
einen Korkenzieher. Seine knochigen, derben
Hände ziehen den alten Korken vorsichtig aus der
Flasche. Dieses Geräusch und das liebevolle
Einschenken in ein kleines Glas passen zu diesen
groben, verschafften Händen, und sie
werden so etwas wie zärtlich.
Er hebt das Glas ins Licht, bewegt es kreisend
hin und her, prüft das Bukett des Weines, trinkt,
und nichts in Welt hätte mich dazu gebracht,
seinen Genuss zu stören. Er gibt mir das Glas,
und es wird mir sonderbar.
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Kann ich diesen
Wein würdigen?
Ein kurzes Riechen und ein ebenso kurzer, eher
verlegener Schluck.
Bei der Geste, das Glas zurückzugeben, winkt
er ab, - Mädchen, trink! Wie
selbstverständlich trinken wir nacheinander aus
einem Glas.
In weinschlürfender Selbstvergessenheit kehrt
wieder die Atmosphäre des Berges ein und das
Abendgeläut der Bremmer Glocken krönt diese
Stimmung.
Siehst Du, - er duzt mich nun, und
noch nie war ein so schnelles "Du" , so
angenehm, siehst Du auf der Mosel die
Fischreiher? Sie waren nicht immer hier und sind
für mich ein gutes Zeichen, dass es der Natur
hier besser geht. Ich versuche angestrengt,
die großen Vögel zu erkennen. Auch Flusskrebse
gebe es seit Jahren wieder. Die Wildschweine und
Rehe mit ihren Fährten weiß er mir genau zu
erklären und wie weit sie sich zu den Menschen
wagen, was nicht unbedingt gut für die Weinberge
sei, dochdasssie zu seinem Leben gehören wie
alles in der Natur. Irgendwann habe er einen
kleinen Fuchs großgezogen, der ihm und seiner
Familie viel Freude brachte, eines Tages jedoch
seine Freiheit suchte, was er ganz natürlich
fand.
So ruhig wie er sprach, so ruhig packt er nun
alles wieder ein, mit jung gebliebenen Beinen
steht er behende auf und hilft auch mir auf die
Beine.
Ich lasse mich treiben. Der Wein wirkt und
verleiht mir Mut, gegebenenfalls weiter zu
steigen. Doch es scheint, als gehe es zurück.
Vertrauensvoll tapse ich wieder hinter ihm her,
konzentrierter nun, denn es wird dunkler. Es ist
nicht der gleiche Weg. Den getretenen Pfad rechts
neben uns habe ich vorher nicht erkannt, und so
steigen wir über den Kopf in eine
andere Kaul. Er zeigt mir weit über
uns einen Weinberg, der zu seinem elterlichen
Besitz gehörte, den seine Schwester dann erbte
und zu dem er immer noch eine starke Bindung habe.
Es geht weiter hinunter und ich merke, wie das
Bergab mir schwerer fällt als der Aufstieg. Wohl
durch die Wirkung des Weines komme ich mir wie
ein hopsendes Reh vor, das mit dem lockeren
Geröll sein Spiel treibt. Auch bei
meinem Winzer erkenne ich die Wirkung
des getrunkenen Weines, oder ist das die
Zufriedenheit, die ich urplötzlich in seinen
Augen erkenne?
Ja, die Augen, das wird mir erst jetzt
bewusstt, waren und sind das Besondere an diesem
Mann, der so viel älter ist als ich und doch
eine Jugend ausstrahlt, die ihn anziehend, ja
fast attraktiv macht.
Es ist kühler geworden und die Weinstöcke
enden rechts von uns vor einer fastsenkrechten
Kanzel, anders kann ich diesen
glänzenden Schieferfelsen nicht beschreiben.
Im Frühjahr, erzählt er, hole er den
Felsensalat aus diesen Layen, wie
hier die Felsen heißen. Ich verstand
Feldsalat und wunderte mich. Nein,
Felsensalat, dem Löwenzahn ähnlich, sehr
vitaminreich und nur kurze Zeit genießbar. Er
wirkt Wunder im Blut. Gut, nur scheint es mir
unmöglich, dort etwas zu pflücken.
Ausgebildeten Bergsteigern würde ich es zutrauen.
Für ihn war es selbstverständlich.
Um an diesen Felsen vorbeizukommen, müssen
wir entweder bäuchlings zum Felsen oder mit dem
Rücken zu ihm uns vorsichtig vorbeitasten. Dabei
fassen meine Hände den Stein an, und ich fühle
eine unvermutete Wärme, angenehm und
überraschend.
Ich frage.
Das sei das Großartige an diesen Steillagen
und im besonderen am Bremmer Calmont - die Sonne
wärmt den Schiefer, dieser gibt die Wärme
nachts an die Weinstöcke ab. Wieder etwas Neues,
Natur total ! Um das an den Stöcken zu erleben,
wage ich mich vorsichtig in den darunterliegenden
Weinberg, halb sitzend betaste ich die
Schieferstücke und genieße den wärmenden
Moment.
Halbwegs das Gleichgewicht haltend, sehe ich
nun auch die mir vorher unvorstellbare Arbeit am
Weinstock, zu dem der Winzer bis zu sechzehn Mal
im Jahr geht. Viel bücken muss sich keiner. Zum
Berg gewandt ist die Schneide- und Laubarbeit in
fast gerader Haltung zu schaffen und bei einer
halben Drehung zur Mosel die gleiche Arbeit am
oberen Teil des Stockes der unteren Reihe.
Mein Winzer ist schon weiter und es ist gut so,
denn er braucht nicht zu sehen, wie ich hilflos,
ungelenk und ziemlich deprimierend aus dem
Weinberg krabbele.
Er steht nach einer Kehrtwendung des
Pädchens vor einer Weinbergsmauer.
Diese, so erzählt er, habe er vor zig
Jahren angelegt. Ich versuche nicht, mir diese
Arbeit vorzustellen, frage nur, ob die anderen
Winzer dies gewürdigt hätten.
Weißt Du, Mädchen, wenn die anderen
hier nicht vorbei kommen, kann ich es auch nicht!
Meine Achtung vor diesem Berufsstand wächst
ständig, wobei ich diesen Beruf des Winzers als
Berufung sehe.
Berufung, eine Köstlichkeit herzustellen,
Berufung zur Natur, Berufung zum Handwerker, zum
Bergsteiger, berufen eine bedrohte Kultur
aufrechtzuerhalten, was ihm und seinen
Zeitgenossen gemeinsam selbst in der ärmsten
Zeit seines Lebens auch gelang.
Und er meint,dassdiese bedrohliche Zeit wieder
käme - in einer anderen Form und mit anderen
Konflikten. Er vertraute aber stark den einzelnen
Kämpfern, wie er sie nennt, die mit den heutigen
Gegebenheiten und Möglichkeiten den immer noch
edlen Wein aus den Moselsteillagen dem Wein- und
Kulturliebhaber näherbringen. Denn vieles komme
und gehe, und es sei auch oft gut so, nur was
Fundament besitze - er vergleicht dies auch mit
den Höhen und Tiefen einer guten Ehe oder
Freundschaft - habe Bestand und gebe Kraft zu
kämpfen.
Wieder etwas Nachdenkenswertes - doch wie war
das mit dem Denken und dem Abrutschen... ? !
Einige Kurven und Biegungen stolpere ich mehr
als ich gehe, nun aber den Winzer hinter mir, der
ebenso gelassen und ruhig den Berg hinabsteigt,
wie er ihn bestiegen hat.
Die Mosel kommt näher, die Autos höre ich
schon und sie werden größer. Die Welt hat uns
wieder.
Ein anderer Winzer, der auch heimfahren will,
grüßt; und der moselfränkische Dialekt, von
dem ich nur einzelne Worte verstehe, fliegt hin
und her.
Den Satz : Kimmst mol vorbeii mit dim
Mädsche, ich hon noch en good Flasch Ween im
Kella ! habe ich natürlich verstanden.
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