Von
Dieter Junker
Cochem - Der Krieg war noch keine zwei
Tage alt, da erschütterte eine Nachricht
von der Mosel das deutsche Kaiserreich:
In Cochem habe ein Mann mit seinem Sohn
auf den Kaiser-Wilhelm-Tunnel, durch den
seit dem 1. August unaufhörlich Züge
mit Soldaten und Nachschub in Richtung
Frankreich, Luxemburg und Belgien
rollten, einen Anschlag verüben wollen.
Beide seien deshalb erschossen worden.
An der Mosel also der erste Spion des
Ersten Weltkriegs. Es war eine Nachricht,
die in allen Zeitungen des Reiches, aber
auch im verbündeten Ausland für
Erstaunen und Aufregung sorgte. Und es
war eine Nachricht, an der nichts stimmte
und die so auch zur ersten Lüge des
Ersten Weltkriegs werden sollte.
Was war geschehen? Am 3. August 1914
ging gegen 1.45 Uhr beim Wolff'schen
Telegrafenbüro in Berlin, einer der
führenden Nachrichtenagenturen des
deutschen Kaiserreichs, ein Telegramm aus
Cochem ein: "Gestern Nacht versuchte
ein Cochemer Gastwirt mit seinem Sohne,
den Cochemer Tunnel zu sprengen. Der
Versuch mißlang, beide wurden
erschossen."
Rasch griffen die Zeitungen diese
Meldung auf. Die
"Rheinisch-Westfälische
Zeitung" berichtet, dass der
Gastwirt mehrere Luftschächte zum Tunnel
gegraben habe, durch die leicht Dynamit
hinabgeworfen und zur Entzündung
gebracht werden könnte, in der
"Coblenzer Zeitung" hieß es,
dass auch die Frau und die Tochter des
schon standrechtlich erschossenen Wirts
zur Karthause gebracht wurden. Ebenfalls
war von Sprengstoff die Rede. Und die
einflussreiche Wiener "Illustrierte
Kronenzeitung" veröffentlichte gar
eine Lithografie, auf der eine
Erschießung vor einem Bahntunnel zu
sehen ist.
Gerade in einer Zeit der völligen
Kriegsbegeisterung kurz nach der
Mobilmachung am 1. August 1914
überschlugen sich dabei die Journalisten
in nationalem Tonfall und in
patriotischer Stimmung. Die
"Bergisch-Märkische Zeitung"
schrieb vom "Schuft von
Cochem", der einem die Schamröte
ins Gesicht steigen lasse angesichts des
niederträchtigen Handels. Angeblich habe
es schon immer Misstrauen gegen den
Gastwirt gegeben, der auf unbekannten
Wegen zu Vermögen gekommen sei. Die
Kugel sei eigentlich zu schade gewesen
für diesen Verbrecher.
Der angeblich erschossene Spion und
Attentäter saß zu dieser Zeit in Haft
im Cochemer Amtsgericht. Bereits am 30.
Juli 1914, also zwei Tage vor der
deutschen Mobilmachung, war der Gastwirt
Paul Nicolay, der Besitzer des
"Landsknecht", verhaftet
worden, ohne dass er die Gründe dafür
kannte. Gleichzeitig hatte es eine
Hausdurchsuchung gegeben, viele national
gesinnte Bürger aus der Region
beteiligten sich ebenfalls an der Suche
nach verdächtigem Material und
verwüsteten beispielsweise ein Schiff,
das Paul Nicolay gehörte.
Paul Nicolay, am 18. Januar 1857 in
Cochem geboren, hatte sich aus ärmlichen
Verhältnissen nach oben gearbeitet.
Zunächst als Schiffer tätig, erwarb er
um die Jahrhundertwende den
"Landsknecht" und machte daraus
eine der führenden Adressen der
Moselstadt. Viele bekannte Urlauber
kehrten hier ein.
Fast zwei Wochen lang blieb Paul
Nicolay nach seiner Verhaftung in Cochem,
bevor er am 12. August 1914 nach Koblenz
ans Kriegsgericht auf der Festung
Ehrenbreitstein überstellt wurde. Viele
Cochemer wohnten dem Transport des
"Spions" an den Bahnhof bei,
beschimpften ihn. Ein ähnliches Bild
dann auch in Koblenz bei der Ankunft.
Vergebens hatte beispielsweise der
Pfarrer von Cochem in Schreiben an den
kommandierenden General des 8. Armeekorps
in Koblenz oder an den
Reichstagsabgeordneten Jacob Pauly
versucht, eine Freilassung des
Inhaftierten zu erreichen. Pauly wurde
sogar im Kriegsministerium in Berlin und
im Reichstagspräsidium vorstellig, ohne
Erfolg.
Der Sohn, der angeblich ebenfalls an
dem Anschlag auf den Tunnel beteiligt
war, war bereits am 2. August 1914, einen
Tag nach der Kriegserklärung an das
Russische Reich, eingezogen worden.
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Am
15. August 1914 begann die Verhandlung,
hier erst erfuhr Paul Nicolay von den
Vorwürfen, die gegen ihn erhoben wurden.
So sollte er 1909 längere Zeit einen
Franzosen beherbergt haben, mit dem er
durch den Krampen fuhr und dem er auch
die Umgebung des Tunnels zeigte. 1911 sei
ein weiterer Franzose Gast im Landsknecht
gewesen. Auch die Herkunft seines
Vermögens kam vor dem Kriegsgericht zur
Sprache. Doch weder die Vernehmung des
Angeklagten noch die Zeugenaussagen
ergaben Belastendes gegen Paul Nicolay.
Im Gegenteil: Sowohl der Cochemer
Bürgermeister Lützenkirchen wie auch
der Cochemer Wachtmeister unterstrichen
die vaterländische Gesinnung des
Cochemer Wirts. Schließlich beantragte
sogar der Staatsanwalt einen Freispruch,
dem das Kriegsgericht folgte. Das Urteil
war eindeutig: "Der Gastwirt Paul
Nicolay aus Cochem ist durch Urteil des
Kriegsgerichtes der Festung
Coblenz-Ehrenbreitstein von der Anklage
des Landesverrats und der Spionage
freigesprochen." Wie schon zwei
Wochen zuvor berichteten erneut viele
Zeitungen im Reich von dem Freispruch,
der "Cochemer Kreis-Anzeiger"
berichtete ausführlich über die
Verhandlung, die "Cochemer
Zeitung" hatte bereits am 4. August
1914 von einer anonymen Denunziation
gegen Paul Nicolay gesprochen, der der
Wirt zum Opfer fiel, und darauf
verwiesen, dass schon seit Jahren
"lügenhafte, oft haarsträubende
Berichte" über Cochem in Umlauf
seien. Das Kriegsgericht ordnete zudem
an, dass die Zeitungen über den
Freispruch zu berichten hatten.
Dennoch blieb offen, wer das ominöse
Telegramm aus Cochem nach Berlin an die
Nachrichtenagentur gesandt hatte, das zu
dieser Posse führte. Der Postsekretär
schwieg, auch Paul Nicolay erhielt auf
entsprechende Anfragen von den Behörden
keine Antwort. Gerüchte sprachen von
einem Konkurrenten und Neider des
Landsknecht-Wirts. Die Behörden schienen
zudem weiterhin Zweifel an der
politischen Gesinnung des Wirts zu haben,
denn trotz des Freispruchs wurde vom
Landratsamt in Cochem weiterhin die Post
an Paul Nicolay geöffnet und gelesen.
Gesundheitlich blieb das Ganze für
den Betroffenen offenbar auch nicht ohne
Folgen, Paul Nicolay starb bereits 1924
im Alter von 67 Jahren.
Landgerichtsdirektor und Geheimer
Justizrat Koenig, der als Richter an der
Kriegsgerichtssitzung teilnahm, schrieb
am 18. Januar 1924 an die Witwe, dass es
für ihn eine Genugtuung gewesen sei,
dass er als Richter mitwirken konnte,
dass das Lügengewebe, das böswillige
Neider um den Gatten gesponnen hatten,
zerrissen wurde und die völlige Unschuld
des "tüchtigen, fleißigen und
kerndeutschen Ehrenmannes klargestellt
wurde".
Erst 1934 endgültig
entlastet
Cochem - Auch noch Jahre nach dem Tod
des Betroffenen ließ die Angelegenheit
die deutschen Behörden nicht ruhen.
Am 28. Februar 1934 erhielt die
Familie Nicolay ein Schreiben der
Treuhänder der Arbeit für das
Wirtschaftsgebiet Rheinland, in dem auf
eine Mitteilung des preußischen
Ministerpräsidenten und des Chefs der
Geheimen Staatspolizei vom Februar 1934
verwiesen wurde, wonach durch das
Kriegsgerichtsurteil vom August 1914 die
völlige Unschuld des Angeklagten
einwandfrei festgestellt worden sei und
die Familienehre damit in jeder Hinsicht
wieder völlig rein dastehe. Und Paul
Nicolay selbst?
In einem autobiografischen Bericht,
der bereits 1915 in einem von seinem
Freund Johannes Lauxenburger
veröffentlichten Büchlein erschien,
schreibt der Wirt: "Der Landsknecht
von Cochem hat am eigenen Leib erfahren,
was das traurige Wörtlein ,ehrlos' sagen
will und wünscht seinem ärgsten Feind
nicht den Fluch dieses Wortes, das ihm
tausendfach entgegenhallte in jenen
großen Tagen unseres Volkes, da gar
mancher Zeitungsschreiber ein Übriges
tat und glaubte, der eignen Begeisterung
und der nationalen Ehre ein kräftig
Schimpfwort auf den Cochemer
Landesverräter schuldig zu sein."
Er wollte keinen anklagen, doch es sei
ihm eine bittere Erkenntnis, "daß
irgend ein Lügner und Fälscher, ein
Verräter und Scheinfreund ein ganzes
treusinniges, wahrheitsliebendes Volk
gegen einen bis dahin unbescholtenen Mann
aufbringen konnte."
Quelle: www.rhein-zeitung.de
vom 17. Mai 2014
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