Bis
zu Anfang der 70er Jahre des 19.
Jahrhunderts kann man sich das
Ellerbachtal noch wie so viele
beschauliche Seitentäler an der Mosel
vorstellen. Dicht bewaldete Berghänge
und kniehohes Gras auf den Wiesen im
Talgrund. Dort fließen die Wasser des
Ellerbaches an einzelnen Mühlen vorbei,
in leichtem Gefälle der Mosel entgegen. Doch
Mitte des Jahrzehnts, im Mai des Jahres
1874, war es mit dieser Ruhe am unteren
Bachlauf vorbei. Mineure begannen einen
Stollen zu graben. Man rückte dem
Schieferfelsen mit Spitzhacke und Dynamit
zuleibe. Mühsam rang man dem Berg das
Gestein Meter um Meter ab, bevor es zum
Aufschütten des Bahndammes durch das
Bachtal bis zur Moselbrücke genutzt werden
konnte.
Anders als heute standen den Mineuren
zu Bismarcks Zeiten nur vergleichsweise
primitive Hilfsmittel zur Verfügung. Das
wichtigste, neben Hacke und Schaufel, war
die Maschine zum Bohren der
Sprenglöcher. Auch trieb man den Tunnel
von beiden Seiten des Berges gleichzeitig
voran. Hinzu kamen drei senkrechte
Hilfsschächte, von denen sich zwei im
Cochemer Stadtgebiet und ein weiterer im
südlichen Tunnelbereich befanden.
Nach exakt drei Jahren, im Mai 1877,
trafen sich die beiden Mannschaften beim
Durchstich in der Mitte des Berges. Sie
hatten den damals längsten deutschen
Eisenbahntunnel fertiggestellt. Der erste
Testzug durchquerte den neuen
Kaiser-Wilhelm-Tunnel am ersten Januar
des folgenden Jahres. Es sollten seit dem
ersten Spatenstich insgesamt genau fünf
Jahre vergehen, nämlich bis zum Mai
1879, bis der Kaiser-Wilhelm-Tunnel für
den regulären Eisenbahnverkehr
freigegeben wurde.
Diesmal war es ähnlich.
Wieder galt es, einen Tunnel in das
Gestein des Cochemer Krampens zu
schlagen. Nur unter anderen Vorzeichen
und mit vollkommen anderen Methoden. Mehr
als 130 Jahre Entwicklung in der
Bergbautechnik lassen erahnen, dass sich
die heutige Vorgehensweise beim Bau der
zweiten Röhre des Kaiser-Wilhelm-Tunnels
nicht mehr mit den für die Gegenwart
sehr einfachen Techniken der
wilhelminischen Zeit vergleichen lässt.
Schon von der Bundesstraße 49 aus, an
der Auffahrt zum Ellerer Bahnhof, erkennt
man, dass sich hier etwas tut. Die alte
Schlaglochpiste bis zum Bahnhofsplateau
ist einer neuen Fahrbahn mit
Schallschutzwand gewichen. Auf dem
Bahnhofsgelände erhebt sich nun ein
riesiger gelber Portalkran, bereit, die
per Bahn angelieferten Tübbings
(Betonfertigteile für die
Tunnelwandauskleidung) bis Anfang
November 2011 auf die Waggons einer
Schmalspurlokomotive zu verladen. Daneben
die kirchturmhohen Silos des
Betonmischwerkes. Weiter, dem Weg am
Ellerbach aufwärts folgend, konnte man
links oben auf dem Bahndamm die
Stahlkonstrukte der Abraumförderanlagen
über den Oberleitungen des Bahnkörpers
erkennen. Durch die noch vorhandenen
Bäume sieht man jenseits des Bachlaufes
nun auch das gelbe Containergebäude der
Firma Alpine und dahinter die Nachläufer
der Tunnelvortriebsmaschine, ab hier nur
noch kurz TVM genannt.
Das Bachtal hallte wider von den
Kommandorufen der Bauarbeiter, den
Geräuschen der Metallschleifmaschinen,
den Schlägen der Eisenhämmer. Aber
diese Geräusche stammten nicht vom
eigentlichen Vortrieb eines Tunnels,
sondern vielmehr von den umfangreichen
Vorarbeiten dazu.
Die Werkzeuge sind auch etwas
größer: Eine rund 100 Meter lange
Maschine mit einem Gewicht von mehr als
1.700 Tonnen entstand vor dem Südportal
des alten Kaiser-Wilhelm-Tunnels mithilfe
eines 600-Tonnen-Raupenkranes und
mehrerer anderer Kranfahrzeuge.
Mehr als zwanzig Monate, seit August
2008 bis zum ersten Vortrieb im Mai 2010,
wurde der Bau der zweiten Röhre des
Kaiser-Wilhelm-Tunnels vorbereitet. Die
wirkliche Bohrphase, also der Zeitraum
bis die TVM auf Cochemer Seite aus dem
Berg kommt, war mit lediglich 15 Monaten
veranschlagt. Den so genannten
Durchschlag erwartete man zunächst im
Sommer 2011, doch es dauerte bis zum 7.
November 2011 bis das Schneidrad der
Maschine den letzten Meter Fels und
Spritzbeton durchfahren hatte. Zu diesem
Zeitpunkt hatte es insgesamt mehr als
4.200 Meter Gestein durchörtert, wie es
in der Sprache der Mineure heißt.
Sprengungen sind bei moderner
Vortriebstechnik weitestgehend
überflüssig, lediglich bei den acht
Querschlägen zum alten Tunnel musste auf
Dynamit zurückgegriffen werden.
Im Vergleich zum historischen Vorbild
ist das neue Tunnelprofil mit 10,1 Metern
Durchmesser und etwa 80 m² (pi*r²)
Fläche mehr als anderthalb mal so groß.
Die neue Röhre verläuft 15 (Wand zu
Wand) bis 25 Meter (Mitte zu Mitte)
östlich des bestehenden Tunnels. Sie ist
nicht nur breiter, sondern mit 4.242
Metern auch geringfügig länger als die
alte, da die sie an ihrem südlichen Ende
einige Meter vor der historischen
beginnen wird. Wie bei der alten Röhre,
wird man von Eller aus nicht bis nach
Cochem sehen können, da sie an ihren
Enden, im Gegensatz zu ihrem etwa 4
Kilometer schnurgeraden mittleren
Abschnitt, leichte Kurven zur alten
Trasse hin beschreibt.
Bei den Projektvorbereitungen gaben
vierzig Bohrkerne aus vertikalen
Tiefbohrungen Aufschluss über die
Beschaffenheit der Gesteine auf der
Tunnelstrecke, aber auch über die
Grundwasserverhältnisse und den Verlauf
einzelner Gesteinsschichten.
Die Ver- und Entsorgung einer
Tunnelbaustelle untertage erforderte auch
außerhalb des eigentlichen Bauwerkes
erhebliche Flächen. Diese hat man daher
ganz überwiegend im Ellerbachtal am
Südportal akquiriert. Das gesamte
Abraummaterial von geschätzten 900.000
Tonnen oder umgerechnet etwa 350.000 m³
wurde täglich auf zwei bis drei
Güterzüge verladen, die für den
Abtransport in eine Tongrube bei
Wallmerod im Westerwald sorgten.
Zwischenzeitlich gelangte der Abraum auch
auf ein ehemaliges Bahnbetriebsgelände
bei Wittlich und kurz vor Ende des
Tunnelvortriebs nutzte man eine Deponie
bei Koblenz-Metternich als Endlager, da
die Bahnstrecke in den Westerwald nach
einem Bahnunfall für einige Wochen
unpassierbar war.
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Bis
zur endgültigen Fertigstellung der neuen
Röhre, Ende 2012, bleibt die alte, noch
zweigleisige Röhre voll in Betrieb, bis
sie dann außer Betrieb geht. Nun beginnt
der gänzliche Rückbau aller bisherigen
Einbauten wie beispielsweise der Gleise,
Schotter, Schwellen, Oberleitungen und
Signale, Entwässerungsanlagen und der
Beleuchtung. Das Gewölbe und die Sohle
der alten Röhre erhalten dann eine neue
wasserdichte Betoninnenschale. Außerdem
erhalten sowohl die erneuerte alte und
die neue Röhre ein neues Schienensystem,
das zur Gänze in Betonelemente
eingelassen ist und damit auch
Straßenfahrzeugen die Möglichkeit
bietet, ohne Umbau auf Schienenverkehr,
in den Tunnel einzufahren. Vergleichbar
mit dem System bei innerstädtischen
Straßenbahnen und Bahnübergängen birgt
diese Neuerung auch in Notfällen viele
Vorteile für die Einsatzkräfte.
Aufgrund der für ein Bauprojekt von
diesen Dimensionen relativ günstigen
Lage des Südportales in einem nur dünn
besiedelten Seitental der Mosel hielten
sich die Beeinträchtigungen der Anwohner
bisher in Grenzen. Hier verlegte man zum
Schutz eigens eine Baustraße mit
Schallschutzwand über den Ellerbach.
Anders auf Cochemer Seite. Dort führt
der neue Tunnel inmitten des
Stadtgebietes aus dem Berg und es sind
für die Einfädelung des neuen Gleises
weitere Bauwerke erforderlich. Dazu
zählen u. a. eine zweite
Eisenbahn-Überführung über die
Brücken- und die Endertstraße, diverse
Stützwände und ein
Löschwasser-Auffangbehälter. Ein
Gebäude wurde bereits im Vorjahr
rückgebaut. Dem folgte im Juni 2010 der
Abbruch des Hauses Erwin Lenz
(Endertstraße 9) und später ein alter
Lokschuppen samt der dort vorhandenen
Gleise.
Hinzu kam noch, dass der Vortrieb hier
im Vergleich zum übrigen Tunnelverlauf
relativ dicht unterhalb der vorhandenen
Bebauung erfolgte. Daher führte man im
Vorfeld umfangreiche Bestandserkundungen,
und, um Schaden zu vermeiden, notwendige
bauliche Maßnahmen an Gebäuden durch.
Ständige Messungen protokollierten
während des Vortriebs auftretende
Veränderungen an Gebäuden und Gelände.
Auch den höheren Anforderungen
hinsichtlich Schall- und
Erschütterungsschutz trägt der Bauherr
Rechnung, sowohl für die Zeit des
Vortriebes als auch für die Zeit danach.
So setzt er außerhalb der neuen
Tunnelröhre auf einer Länge von 150
Metern ein so genanntes
Masse-Feder-System ein, bei dem eine
elastische Schicht zwischen Schienen und
der Tunnelsohle Geräusche und
Erschütterungen vermindern soll.
Ergänzend tun eine niedrige, 410 Meter
lange Schallschutzwand und besonders
geschliffene Gleise ein Übriges.
Die denkmalgeschützten und
historischen Portalbauwerke bleiben
erhalten, wobei man lediglich die
ebenfalls historische Lüftungsanlage
demontiert und das bislang freistehende
Cochemer Portal künftig wieder
unmittelbar mit dem Tunnelbauwerk
verbindet. Die Endbauwerke der neuen
Röhre werden modern ausfallen und mit
der historischen Bausubstanz der
Kaiserzeit kontrastieren. Das gleiche
gilt für die beiden Brücken über die
Brücken- und die Endertstraße.
Sicherheit ist erstes Gebot. Dieses
Motto gilt sowohl beim Bau als auch beim
Betrieb eines Tunnelbauwerkes. Dazu war
die TVM neben einem halbautomatischen
Löschsystem mit einem Rettungscontainer
ausgerüstet. Dieser bot den Mineuren im
Notfall mehrere Stunden Schutz.
Querstollen zum alten Tunnel und alle 500
Meter ein rauchdichter Raum erhöhten die
Sicherheit zusätzlich. Ein in
Zusammenarbeit mit den ortsansässigen
Feuerwehren konzipierter Flucht- und
Rettungsplan vervollständigte die
Vorkehrungen für den Ernstfall.
Der Bau der zweiten Röhre des
Kaiser-Wilhelm-Tunnels bringt der
Deutschen Bahn zwar kein Kapazitätsplus
auf der Moselstrecke, das Bauwerk aber
auf den sicherheitstechnisch neuesten
Stand. Acht luftdicht verschließbare
Verbindungsstollen zwischen den beiden
Röhren im Abstand von 500 Metern tragen
zukünftig dazu bei. Ebenso wie die
bereits erwähnte Befahrbarkeit der
Röhren mit Straßenfahrzeugen,
Fluchtwegekennzeichnungen,
Notbeleuchtung, Notruftelefon und ein
Handlauf. Für die Unfalldienste finden
sich dann an beiden Tunnelenden
Rettungsplätze. Über ein neues
Funksystem können Notfalldienste ihre
Einsätze im Tunnel koordinieren.
Am 10. April 2010, dem Tag der
Tunneltaufe und der offenen Baustelle,
segneten Pastor Peter Lönarz und Pastor
Thomas Werner die TVM. Der Schutzpatronin
der Mineure und Bergleute, der heiligen
Barbara, weihte man eine kleine Nische
direkt am neuen Tunneleingang. Damit
bitten die am Bau beteiligten Menschen um
gutes Gelingen des Bauwerkes und den
Schutz vor Unglücken. Ministerpräsident
Kurt Beck richtete ein Grußwort an die
Anwesenden. Roswitha, seine Gattin,
übernahm das Amt der Tunnelpatin.
Obwohl sich die Deutsche Bahn und die
am Projekt beteiligten Firmen
verpflichtet haben, die während der
Bauphase auftretenden Belastungen für
Mensch und Umwelt so gering wie möglich
zu halten, sind diese unvermeidbar. Mit
den Naturschutzbehörden hat man daher
Maßnahmen für einen ökologischen
Ausgleich vereinbart.
Nach Abschluss der Baumaßnahmen
werden nicht mehr erforderliche Flächen
landschaftspflegerisch wieder in ihren
natürlichen Zustand versetzt. Dabei soll
auch die neue Brücke über den Ellerbach
wieder rückgebaut werden.
Dann kehrt wohl wieder Ruhe ein in den
unteren Teil des Ellerbachtales und nur
die alle zehn Minuten aus der alten
Röhre aus- und in die neue einfahrenden
Züge unterbrechen die Stille für einen
kurzen Augenblick. Wenige Jahre nachdem
die letzten Mineure das Ellerbachtal
wieder verlassen haben werden, holt sich
die Natur große Teile des jetzigen
Baustellengeländes wieder zurück und
nur noch das neue Loch im Berg gibt
Auskunft darüber, dass es hier acht
Jahre lang eine Großbaustelle gegeben
hat.
Quelle: Jahrbuch des Kreises Cochem-Zell
2011 (aktualisierte Version)
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